Prothero und Gruenhagen setzten sich im Anschluss noch kurz auf ein Bier in ihrem Büro zusammen. Todd Gruenhagen, 47, war ein eingefleischter Linker und tougher Anwalt, der sich gerne mit der Polizei oder jeder sonstigen Behörde anlegte. Er war berüchtigt für seinen Sarkasmus, seine Vorliebe für die Marke Harley Davidson und seine umfangreiche Schusswaffensammlung. Gruenhagen liebte die Jagd und war ein glühender Verfechter des zweiten Zusatzartikels der Verfassung. Der 45-jährige Mark Prothero hingegen galt als gemäßigter Liberaler und Familienmensch, dessen größtes Hobby der Schwimmsport war. Beide waren sie überzeugte Gegner der Todesstrafe, wie die meisten amerikanischen Juristen – auch die, die für die Staatsanwaltschaft arbeiteten. Der Großteil der Cops hatte eine andere Meinung zu dem Thema. Ebenso wie das Volk. Hätte man die Bewohner des King County heute Abend gefragt, wäre die Antwort wohl eindeutig ausgefallen: Spart euch das Verfahren und knüpft diesen Mistkerl am nächsten Baum auf.
Zum ersten Mal an diesem Tag wurde ihnen bewusst, was nun auf sie zukommen würde. Vor ihnen lag der Prozess des Jahrzehnts. Ach was. Des Jahrhunderts. Der Green River Killer. 49 Leichen. So etwas hatte Washington noch nicht erlebt. Jeder Geschworene hätte bereits eine Vielzahl von Berichten gesehen und gelesen, bevor die Jury zusammengestellt wurde. Wie sollte man da ein faires Verfahren vor einem Geschworenengericht erwarten? Unvoreingenommen. Ha.
In den zwanzig Jahren Ermittlungen mussten sich Zigtausende Seiten an Aktendokumenten angehäuft haben. Dazu tonnenweise Beweismaterial. Allein diese Dimensionen machten den Anwälten Angst. Die Verteidigung würde das gesamte Material sichten müssen, um einen fairen Prozess zu gewährleisten. Das würde Jahre dauern und ganz sicher Millionen von Steuergeldern verschlingen. Darüber hinaus hatten sie die Medien im Nacken sitzen, die ihren Klienten in das größte Monster verwandeln würden, das jemals existiert hatte. Prothero hatte bereits mehrfach versucht, die Frau und den Bruder von Gary Ridgway zu erreichen. Es meldete sich lediglich der Anrufbeantworter. Kein Wunder. Das Telefon hatte vermutlich seit Stunden im Dauertakt geklingelt. »Sie haben mit dem gefährlichsten Serienkiller der USA unter einem Dach gelebt. Beschreiben Sie unseren Zuschauern Ihre Gefühle, Julie. Was geht jetzt in Ihnen vor?« Wer einmal diese typische Reporterfrage gehört hatte, würde garantiert lange Zeit jeden Telefonapparat meiden.
Und was war mit ihrem Klienten? Er hatte vernünftig geklungen. Auf unzurechnungsfähig zu plädieren, konnten sie sich wohl abschminken. Dann seine fast schon devote Höflichkeit. Wie ruhig, entspannt und nett er trotz der schweren Anschuldigungen wirkte. Das machte ihnen am meisten Angst. Einer, der unschuldig in Haft geriet, wäre ihren Erfahrungen nach vor Panik oder Wut die Wände hochgegangen. Nichts von alledem bei Gary Ridgway. Sie ahnten in diesem Moment, dass hinter der Maske des freundlichen Herrn Ridgways möglicherweise noch die eine oder andere unliebsame Überraschung auf sie warten könnte.
Vorschau auf Todesmeile – Dritter Teil (2001-2003)