Häkeldeckchen

Die dritte Aktion, die an diesem Freitag Punkt 15.05 Uhr startete, ereignete sich in einer ruhigen Wohngegend von Auburn. Dort schellten Sue Peters und Matt Haney an der Tür von Julie Ridgway, Garys Ehefrau. Julie ließ die beiden Beamten arglos herein und führte sie ins Wohnzimmer. Sie ahnte nicht, welches Spiel gespielt wurde. Sie wusste nicht, was die Polizisten von ihr wollten. Wahrscheinlich irgendetwas wegen Garys Verkehrsübertretung, dachte sie. So hatte Gary Ridgway seiner Frau die Verhaftung am 16. November erklärt.

Peters und Haney schauten sich neugierig in der guten Stube des mutmaßlichen Serienkillers um. Der Raum machte einen aufgeräumten Eindruck. Regelrecht gemütlich, wenn auch etwas altbacken. Die Couchgarnitur war aus Plüsch, die Schrankwand aus Eiche rustikal. Stereoanlage und Fernseher waren passend furniert. Die Möbel waren nicht nagelneu, aber sie sahen gepflegt aus. Über dem Sofa und den Sesseln waren gemusterte Häkeldecken drapiert, dazu eine Menge Kissen mit lieblichen Blumenornamenten. Neben dem offenen Kamin lagerte ein fein säuberlich gestapelter Haufen Holzscheite. An den Wänden hingen gerahmte Drucke. Schiffe, Blumen und Engel in allen möglichen Variationen. Außerdem enthielt ein Rahmen eine Collage aus Fotos, die zahlreiche Mitglieder der Familie Ridgway zeigten. Ansonsten war der Raum vollgestellt mit Pflanzen, lebensgroßen Keramikkatzen, Puppen und Nippes jeglicher Art. Jede freie Schrank- oder Regalfläche war mit dem Kram belegt. Dem Plunder war immer ein feines Häkeldeckchen untergeschoben.

Das ganze Arrangement versprühte pure Feminität. Es offenbarte keinerlei Hinweis darauf, dass in diesem Haus ein Mann wohnte. Wenn man mal vom Heimtrainer absah, neben den sich nun Peters und Haney auf dem Sofa niederließen. Doch den konnte schließlich auch Julie Ridgway benutzen. Sie war eine eher zierliche Frau, weder dick noch dünn. Auf den ersten Blick wirkte sie schüchtern. Zurückhaltend. Wie jemand, der nicht gern im Mittelpunkt stand. Sie trug praktisch kein Make-up. Julie war 57, fünf Jahre älter als Gary. Sie hätten ein paar Fragen, eröffneten die Beamten das Gespräch. Ob Julie etwas dagegen habe, wenn sie die Unterhaltung auf Tonband aufzeichneten? Julie hatte keine Einwände.

»Wir haben heute Morgen mit Ihrem Mann gesprochen. Wissen Sie darüber Bescheid?«, fragte Sue Peters.
»Ja. Er hat mich von der Arbeit angerufen und gesagt, dass da zwei Polizisten bei ihm waren, die ein paar Fragen hatten.«

»Wir sind hier, um einige seiner Angaben zu überprüfen. Außerdem wollen wir Sie zu Dingen befragen, die die Vergangenheit von Gary betreffen. Um uns ein besseres Bild von ihm machen zu können. Okay?« – »Okay.« Sue Peters fragte zunächst, wie sich die beiden überhaupt kennengelernt hatten. Sie seien seit 1987 verheiratet, aber bereits ab 1985 ein Paar. »Was für eine Art Mensch war Ihr Mann damals?«, wollte Sue Peters erfahren. »Wie würden Sie ihn beschreiben?«
»Oh, Gary war der Beste. Nett, süß, zuvorkommend. Das ist er heute noch. Wissen Sie, wenn er nach Hause kommt, dann ist er zu mir immer noch wie früher. Wie am ersten Tag unserer Beziehung.« Sie hätten nie enge Freunde gehabt. Mit den Kollegen, ja, mit denen habe sich Gary natürlich über dies und das unterhalten. Auch mit den Nachbarn am Gartenzaun. Aber mit diesen Leuten habe er sich nicht privat getroffen.

»Wie sieht es mit weiblichen Bekannten aus? Also, ich meine jetzt keine Beziehungen, sondern einfach bloß lockere Freundschaften?«, fragte Peters.
»Nein. Nicht, dass ich wüsste. Nein.«
»Sie zwei bleiben also lieber für sich? Verbringen die Freizeit gemeinsam?«

»Ja, richtig. Wissen Sie, wenn ich im Geschäft bin – ich arbeite halbtags in einer Metzgerei – dann schaue ich gegen Mittag immer auf die Uhr. Ich weiß genau, wann Gary nach Hause kommt, da kann ich mich hundertprozentig auf ihn verlassen. Und ich möchte dann da sein für ihn, sobald er zur Tür hereinkommt. Jeden Tag.« Einen wirklichen Streit habe sie in ihrer gesamten Ehe mit Gary nicht erlebt. Sie könne sich nur erinnern, dass er sich ab und an mit Martha, ihrer Vorgängerin, gekabbelt habe. Dabei sei es aber in der Regel um den gemeinsamen Sohn Mitch gegangen. Seit der Junge erwachsen sei – Mitch war inzwischen 26 –, sei der Kontakt zwischen Gary und Martha jedoch praktisch zum Erliegen gekommen.

»Wissen Sie, warum die beiden sich damals trennten?«, fragte nun Matt Haney.
»Also, Martha trat früher als Sängerin in einer County&Western-Band auf, so weit ich weiß. Und sie hing immer mit der Band zusammen und blieb lange aus. Gary musste dann zu Hause aufs Kind aufpassen. Aber die genauen Einzelheiten kenne ich nicht«, sagte Julie.
»Er erwähnte, dass sie ihm untreu war. Wissen Sie etwas darüber?«
»Wenn da was war, wahrscheinlich mit ein paar Mitgliedern der Band. Also, vielleicht. Ich hab wirklich keine Ahnung.« Über Garys erste Frau wusste Julie praktisch gar nichts. Sie erinnerte sich, dass es mal Streit wegen Möbel oder Haushaltssachen gegeben habe. Doch die Geschichte kenne sie nur vom Hörensagen.

»Erinnern Sie sich an einen konkreten Anlass, wo Ihr Mann mal aus der Haut fuhr? Ich meine, gab es irgendetwas an seinen Ex-Frauen, das Gary so richtig wütend machen konnte?«
»Richtig wütend? Also, wütend hab ich ihn nie erlebt. Nein, Gary hatte keine Wut auf Martha. Er ärgerte sich halt schon mal über sie. Das war‘s. Ich mein, er hat nie rumgebrüllt, Türen geschlagen, Sachen herumgeschmissen oder so.«
»Okay. Aber jeder hat doch mal einen schlechten Tag. Oder miese Laune. Hat Gary nie miese Laune?«
»Nein.«

Matt Haney verzweifelte allmählich. »Also, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen … Gut. Dann frag ich Sie so: Haben Sie jemals erlebt, dass Ihr Mann die Kontrolle verloren hat? Dass er Ihnen gegenüber handgreiflich wurde?«
»Handgreiflich, nein. Er ist einmal laut geworden. Da kann ich mich entsinnen. Es ging um irgendeine Kleinigkeit. Ich weiß schon nicht mal mehr, was es war.«
»Hat er Sie je geschlagen? Oder gepackt und geschüttelt? Haben Sie je die Polizei gerufen, weil er gegen Sie Gewalt anwendete?«
»Nein! Um Himmels willen, nein.« Judith schien allein wegen des Gedankens aufrichtig schockiert zu sein.
»Ich versuche nur, Ihre Beziehung besser zu verstehen«, erklärte Matt Haney.
»Gary ist der Beste«, erwiderte Julie mit fester Stimme. Seltsamerweise hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt die Polizisten kein einziges Mal gefragt, was sie ihrem Mann eigentlich genau vorwarfen.

Vorschau auf Todesmeile – Dritter Teil (2001-2003)

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