Kafkaesk

Haus von Gary Ridgway vor 1987
Haus von Gary Ridgway vor 1987

In den folgenden Tagen durchsuchte die Polizei mehrere Häuser, in welchen der Verdächtige gelebt hatte. Seinen aktuellen Wohnsitz. Die beiden Gebäude, in denen er in den Jahren zuvor mit Julie gewohnt hatte. Die Bretterbude, die er Anfang der 1980er sein Heim nannte. Und schließlich sein Elternhaus. Es befand sich noch im Familienbesitz. Vor Garys Verhaftung hatten die drei Brüder gerade nach einem Verkäufer Ausschau gehalten. Die Ermittler erwarteten sich die besten Spuren in dem Haus, das in der Nähe von Strip und 216. Straße stand. Dort verbrachte Gary Ridgway unter anderem die Jahre 1982 und 1983, als die Mordserie auf dem Höhepunkt angelangte. Das Gebäude hatte inzwischen einen neuen Anstrich verpasst bekommen. Statt blau blätterte es jetzt in grünlichem Grau vor sich her. Es hinterließ nach wie vor denselben ärmlichen Eindruck. Mittlerweile war hier eine Familie eingezogen, die kaum ein Wort Englisch verstand. Sie saß gerade beim Mittagmahl, als ein Schwarm Polizisten unangekündigt in ihr Haus eindrang.

Wer weiß, was sie bei dem Anblick dachten. Der 11. September war keine drei Monate her. Vielleicht befürchteten sie eine Einweisung nach Guantanamo. Kafkaesk war es allemal. Die Task Force quartierte sie aber lediglich in ein Hotel um. Ihre mangelnden Sprachkenntnisse erwiesen sich in diesem Fall von unschätzbarem Vorteil. Ihnen blieb somit verborgen, weshalb die Polizei das Haus durchsuchte und welche grausigen Dinge sich hier möglicherweise in der Vergangenheit abgespielt hatten. Wahrscheinlich hätte die Familie dann freiwillig das Weite gesucht.

Dem mobilen Einsatzkommando folgten die Spurensicherer mit ihren weißen Einwegoveralls samt Kapuze. Sie zogen sich Latexhandschuhe an und stülpten Gamaschen über ihre Sicherheitsschuhe, um selber keine Spuren zu verursachen. Anfang Dezember 2001 war das Wetter in Seattle grauenhaft, was für diese Region keine große Überraschung darstellte. Der Himmel war ein dunkelgrauer Breiklumpen. Es regnete den ganzen Tag. Und um 16.00 Uhr setzte die Dämmerung ein. Für die Spurensicherer waren das wahrlich düstere Aussichten. Ihre Arbeit wurde durch den Mangel an Tageslicht erheblich erschwert. So arbeiteten sie tagsüber unter Hochdruck, um die wenigen Fitzelchen natürlichen Lichts auszunutzen.

Die Ermittler gingen davon aus, dass der Green River Killer viele seiner Opfer mit nach Hause nahm und dort umbrachte. Die Task Force war noch im Besitz von Polaroids, die sie in den 1980ern von Gary Ridgways Schlafzimmer angefertigt hatte. Sie vermuteten, dass er die Frauen in diesem Raum getötet hatte. Auf den Fotos war ein besonders gruseliges Detail zu entdecken. Am Kopfende des Bettes hing eine Fototapete. Motiv: ein einsamer Wald. Möglicherweise das letzte Bild, das die Opfer sahen, bevor Gary Ridgway ihre Leichen an eben solch einem Ort verscharrte. Die Spurensicherer widmeten sich zunächst dem Bodenbelag. Gary Ridgways ehemalige Nachbarn hatten berichtet, dass sie ihn einmal beobachtet hatten, wie er einen großen Teppich entsorgte. Er hatte behauptet, ihm wäre ein Eimer roter Farbe umgekippt. Unter dem neuen Teppichbelag fanden die Beamten tatsächlich Fasern früherer Exemplare. Aber keinerlei verräterische Blutflecken oder sonstige Körperflüssigkeiten. Das war enttäuschend.

Die Kriminalisten arbeiteten sich Raum für Raum durch das Haus. Sie untersuchten die Teppichstopper. Den blanken Boden. Die Fußleisten. Nichts. Sie durchleuchteten die Wände mit Röntgengeräten, ob sich unter dem neuen Anstrich alte Spuren verbargen. Nichts. Selbst der Kriechkeller gab keinen Hinweis auf ein Verbrechen preis. Vielleicht war inzwischen zu viel Zeit vergangen. Dennoch war es höchst seltsam. Schließlich nahm die Task Force an, dass Gary Ridgway hier mehrere Dutzend Frauen getötet hatte. Da mussten sich normalerweise auch zwanzig Jahre später noch Spuren finden lassen, die das belegten. Den Beamten war allerdings aus den früheren Ermittlungen bekannt, dass Gary Ridgway von Frühjahr bis Herbst 1982 aus dem Wohngebäude in die Garage umgezogen war. Er hatte zu dem Zeitpunkt Geldprobleme und vermietete seine Wohnung an ein Ehepaar unter. War das Gebäude also in Wahrheit nie der Tatort gewesen?

Das nächste Objekt von Gary Ridgway befand sich in Des Moines. Das erste gemeinsame Heim von Julie und Gary Ridgway. Die Nachbarschaft war ein Stück weit gediegener, das Haus besser in Schuss. Ein Muster, das sich bei den folgenden Umzügen fortsetzte. Ein Mann auf dem Weg nach oben. Die Polizisten suchten erneut nach Fasern, Haaren, Blutspuren, Fingerabdrücken, Fotos oder irgendwelchen »Trophäen«, die er von seinen Verbrechen zurückbehalten hatte. Schmuckstücke. Blutgetränkte Kleidungsstücke. Waffen. Irgendetwas, das Gary Ridgway mit den Opfern in Verbindung brachte. Sie fanden nichts. Auch die Durchsuchungen des dritten Wohnhauses sowie des Elternhauses entpuppten sich als Reinfall.

Blieb das aktuelle Eigenheim der Ridgways in Auburn übrig. Die Spurensicherer wurden von zahlreichen Katzen empfangen, die nach wie vor im Gebäude umherstreunten. Die Beamten achteten peinlichst genau darauf, jedes Mal die Tür zu verschließen, damit keine der Miezen entwischte. Das würde ihnen gerade noch fehlen. Empörte Anwälte, die den Geschworenen Fotos von süßen Kätzchen zeigten und die Polizisten als einen Haufen gefühlskalter Gestapo-Chargen darstellten.

Im Schlafzimmer der Ridgways bot sich den Ermittler das gleiche Bild wie im Wohnzimmer: lieblicher Häkeldeckchen-Charme. Auf der Bettwäsche blühten rote Rosen in voller Pracht. Der große Kleiderschrank war fein säuberlich in zwei Hälften aufgeteilt. Links hingen die Sachen von ihm, rechts ihre. Alle Kleider waren akkurat gebügelt und faltenfrei drapiert. Die Haken jedes einzelnen Kleiderbügels zeigten in dieselbe Richtung. Die Schuhe standen sorgfältig nebeneinander aufgereiht auf dem Schrankboden. Auch in der Küche herrschte die gleiche Reinlichkeit und Ordnung. Als die Spurensicherer die anderen Wohnräume betraten, erlebten sie jedoch eine Überraschung. Scheiße, entfuhr es spontan einem der verblüfften Beamten.

Jedes dieser Zimmer war bis unter die Decke randvoll mit Sachen zugestellt. Im ersten Moment fühlten sich die Polizisten an einen Messie-Haushalt erinnert. Mit dem gravierenden Unterschied, dass der ganze Kram ordentlich in Kartons verpackt war. Zwischen den Stapeln schlängelten sich Pfade, damit die Hausbesitzer an das Material gelangen konnten. Offensichtlich lagerten die Ridgways in den Räumen die Beute ihrer »Raubzüge« auf den Trödelmärkten. Und einiges darüber hinaus. Die Kisten enthielten Plunder, Trödel und Sperrmüll aller möglichen Art.

Einerseits stöhnten die Beamten, weil sie jeden einzelnen Gegenstand dokumentieren mussten. Andererseits schöpften sie Hoffnung. Selbst für eine reinliche Hausfrau wie Julie Ridgway war es unmöglich, hier überall sauber zu machen. Also hielten die Spurensicherer erneut Ausschau nach latenten Fingerabdrücken und getrockneten Blutspuren. Sie untersuchten insbesondere die geschützten Oberflächen, die beim Haushaltsputz gerne übersehen wurden. Die Regalunterkanten. Die Unterseite der Tische. Bilderrahmen. Zwar gelang es ihnen dadurch, etliche Fingerspuren zu sichern. Doch keine gehörte zu einem der Opfer oder zu vermissten Personen.

Am Ende nahm man sich auch noch den Garten vor. Als man Julie von diesem Vorhaben erzählt hatte, war sie spontan in Tränen ausgebrochen. Dort lag ihr geliebter Pudel begraben. »Pfläumchen«. Die Task Force gab daraufhin dem Baggerfahrer die Anweisung, besonders vorsichtig zu buddeln. Die Ridgways verfügten offensichtlich beide über einen grünen Daumen. Laut Aussagen der Nachbarn hatten sie oft Stunden hier draußen mit Gartenarbeit zugebracht. Das sah man den ordentlichen Blumenrabatten und sauber gestutzten Rhododendronbüschen an. Die Zierpflanzen durften stehen bleiben. Den Rest griff sich der Bagger.

Wie in den alten Tagen der Task Force siebten die Ermittler wieder kübelweise Dreck. Was sie zu finden erhofft hatten, es kam nicht zum Vorschein. Die Leichenhunde, die man übers Gelände schickte, schlugen zwar einmal an. Aber wahrscheinlich witterten sie nur »Pfläumchen«, den Pudel. Der Boden enthielt keine Schmuckstücke. Keine Kleidungsreste. Und schon gar keine Knochen, wenn man mal vom Gerippe des Köters absah. Wo auch immer der Green River Killer die Leichen der vermissten Frauen, die man bisher nicht gefunden hatte, vergraben hatte, hier waren sie jedenfalls nicht.

Vorschau auf Todesmeile – Dritter Teil (2001-2003)

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