Das Gebäude, in dem das neue Hauptquartier der Task Force untergebracht war, hieß unter den Beamten nur der »Bunker«. Die Bezeichnung war dem Äußeren des Hauses geschuldet. Die vordere Hausfassade verfügte über keinerlei Fensteröffnungen. Die wenigen Fenster der Rückseite waren komplett mit schwarzen Vorhängen verhangen. Der Hauseingang war als solcher zunächst nicht zu erkennen. Er befand sich im Keller und ließ sich nur durch eine Treppe erreichen, die am rückwärtigen Teil des Gebäudes angebracht war. Der Eingangsbereich grenzte unmittelbar an einen Parkplatz. Die Task Force nutzte die unterste Etage des ehemaligen Bürokomplexes. Das Herzstück bildete ein etwa hundert Quadratmeter großer Raum. In der Mitte standen Kisten mit Akten und Beweismaterial, Kopierpapier, Kopiermaschinen sowie Regale. An den Wänden waren Büronischen eingelassen. Sie wurden von Mitarbeitern aus dem Stab des Staatsanwalts und der Task Force genutzt.
Gary Ridgway war in einem separaten Raum untergebracht, solange die Beamten ihn nicht verhörten. Die kleine Zelle war lediglich mit einer Liege und einem Stuhl möbliert. Der Badezimmerbereich mit Toilette und Waschbecken war davon abgetrennt. Daneben stand eine Campingdusche. Darüber hing ein Wasserkanister von der Decke herab. Gary Ridgway durfte sich einmal täglich kalt duschen. Eine Küchenzeile mit einem Spülbecken, einem Kühlschrank, einer Kaffeemaschine und einer Mikrowelle komplettierte die trostlose Innenausstattung. Ansonsten starrte Gary Ridgway gegen vier kahle Betonwände.
An der Decke war eine Kamera montiert. Gary Ridgway wurde rund um die Uhr überwacht. Privatsphäre war für ihn nicht vorgesehen. Vor der Tür schoben zwei, manchmal vier Beamte gleichzeitig Wache. Auch hier überließ die Task Force nichts dem Zufall. Man hatte Mitglieder des SWAT-Teams, des Sondereinsatzkommandos, für diesen Job abkommandiert. Sie waren schwer bewaffnet und trugen gefährlich aussehende Elektroschockpistolen am Gürtel. Ein Schuss aus einer dieser Kanonen hätte vermutlich binnen Sekundenbruchteilen jeden Elefanten zu Boden gehauen.
Auf der anderen Seite des Bunkers befand sich noch ein Besprechungsraum. Dort konnten sich die verschiedenen Parteien zur Beratung zurückziehen. Direkt daneben lag der Verhörraum, wo sich in den kommenden Monaten das eigentliche Geschehen abspielen sollte. Wenn Ridgways Anwälte erschienen, untersuchten Polizisten ihre Aktentaschen jeden Tag aufs Neue vor dem Betreten des Raums. In dem Zimmer standen zwei weiße Tische und mehrere Stühle. Diverse festinstallierte Videokameras und Mikrofone zeichneten die Verhöre auf. Während einer Befragung durften sich neben Gary Ridgway nur maximal zwei Vernehmungsbeamte und zwei Verteidiger im Raum aufhalten. Die übrigen Personen konnten die Gespräche im Videoraum auf einem Monitor live verfolgen.
Gegen 16.00 Uhr nachmittags begannen die Rekorder, das erste von vielen Verhören in den kommenden Monaten aufzuzeichnen. Zwei Wachen führten Gary Ridgway hinein. Der Gefangene trug Handschellen, die mit einer Kette an der Hüfte verbunden waren, sowie Fußfesseln an den Beinen. Die Task Force sorgte in jeder Minute für Hochsicherheit. Gary Ridgway würde ihnen nicht noch einmal entkommen. Ein Mitarbeiter von Jeff Baird verlas dem Angeklagten die Inhalte der Vereinbarung und fragte ihn, ob er zugebe, 47 Frauen ermordet zu haben. Ja, gestand Ridgway für alle laut und vernehmlich. Das war das erste Mal in nunmehr 21 Jahren Ermittlungen, dass eine Person sich offiziell schuldig bekannte, der Green River Killer zu sein.
Als diese Prozedur beendet war, erschienen die vier Beamten der Task Force, die die Verhöre führen würden. Sie stellten sich Ridgway und den Verteidigern vor. Tom Jensen, der stille Skandinavier mit dem trocknen Humor, der Ridgway zur Strecke brachte. Sue Peters, von kleiner Statur, aber als ehemalige Leistungssportlerin äußerst drahtig. Randy Mullinax. Ein untersetzter, kräftiger Typ, dessen Halbglatze von einem kurz geschorenen Haarkranz eingerahmt wurde. Der Kriminalbeamte mit dem Ziegenbärtchen trug immer Jeans, Poloshirt und Fleece-Weste, schien nie zu blinzeln und spielte den bösen Cop.
Jon Mattsen war mit 35 Jahren deutlich jünger als seine Kollegen. Sein jugendliches Antlitz unterstrich diese Wirkung noch. Er und Sue Peters übernahmen oft die Rolle des guten Cops. Die Beamten boten Ridgway gleich das Du an, um das Eis zu brechen. So redeten sich alle mit Vornamen an, als hätten sich hier ein paar alte Bekannte auf einen lockeren Plausch getroffen. Gary Ridgway freute sich über den vertraulichen Umgang. Allerdings hatte er Angst, dass ihm sein Namensgedächtnis einen Streich spielen könnte. Deshalb bat er seine Anwälte, von jeder Person, die ihn befragte, Namenskärtchen zu fertigen. Ihm war es ein Grundbedürfnis, einen guten Eindruck zu hinterlassen.
Tom Jensen stellte Gary Ridgway als Erster eine Frage. »Wir würden gerne mit den Leichen beginnen, die nach wie vor dort draußen herumliegen. Wir wollen nicht noch mehr Zeit verstreichen lassen. Sonst baut am Ende noch jemand ein Haus oder einen Parkplatz an der Stelle und wir kommen zu spät, um-« – »Ja, richtig«, fiel ihm Gary Ridgway ins Wort. Jensen fuhr fort: »Ich denke, ein guter Anfang wäre, wenn du uns von dem ersten Fall erzählst, der dir in dem Zusammenhang einfällt, Gary. Wo es eine Leiche gibt.«
»Die … die Erste, die ich umgebracht hab?«
»Ja«, ermunterte ihn Randy Mullinax.
»Äh, also, ich kann mich nicht mehr so genau daran erinnern, wo das war. Wo ich sie genau umgebracht hab. Weil, das hab ich ja nicht geplant. Damals. Also, was dann passiert ist. Ich, wie soll ich sagen, ich hatte mit vielen Frauen was am Laufen. Also, äh, so Sex. Ich weiß da wirklich nicht mehr, wo ich jede von denen jetzt um die Ecke, umgebracht habe. Also, ich weiß nicht, wo ich die Erste umgebracht hab. Aber es war Coffield. Ja, Coffield. Ziemlich sicher.«
Das Ganze war offensichtlich ein Missverständnis. Die Polizeibeamten wollten von Gary Ridgway wissen, wo er die bisher unentdeckten Leichen versteckt hatte. Weil dieses Thema drängte, wie sie sagten. Aber natürlich auch, damit er ihnen bewies, dass er tatsächlich der Mörder war, für den er sich ausgab. Obwohl Gary Ridgway zu Beginn verstand, worauf Tom Jensen hinauswollte, verwirrte ihn anscheinend die Frage nach dem ersten Opfer. Er dachte, Tom Jensen meinte sein erstes Mordopfer überhaupt. Und im nächsten Moment gab er zu, dass er Wendy Coffield ermordet hatte. Das war eine schöne Bescherung für seine Verteidigung. Denn diese Fälle waren ja ausdrücklich nicht Bestandteil der Verhöre, um zu verhindern, dass er sich dort zusätzlich belastete.
Randy Mullinax ging lässig über Ridgways Fauxpas hinweg. Er lenkte das Gespräch wieder zurück auf das eigentliche Thema. Und nun nannte Gary Ridgway den Ermittlern die Orte, wo sie weitere Leichen finden würden. An der Interstate 90, Ausfahrt Fall City. An einem Campingplatz an der Interstate 90. An einem Rastplatz an der Interstate 90. An der Rennbahn. Am Kino am Strip. Wahrscheinlich Kase Lee. Nördlich oder südlich der Star Lake Road ein Leichnam, den sie bisher übersehen hatten. Bei einem Krankenhausparkplatz im Norden Seattles. Er erinnerte sich, dass er der Frau die Haare angezündet habe. Habe das Feuer aber wieder gelöscht wegen des Rauchs. Als die Ermittler diese Angaben später überprüften, stellte sich heraus, dass es sich bei dem Opfer um Linda Rule handelte. Eine Frau, die niemals auf der Liste der Task Force geführt wurde, weil ihr Mord überhaupt nichts ins Schema zu passen schien. Noch eine Leiche an der Black Diamond Road, wo Yvonne Antosh lag. Und er erzählte von Geheimverstecken im King County, wo er Schmuck der Toten deponiert habe.
Er berichtete den Beamten, wie er seine Opfer in die Falle gelockt habe. Sie ermordet habe. Was sein vermeintliches Tatmotiv gewesen sei. Er spielte die gleiche Leier ab wie zuvor bei seinen Anwälten. Weil sie mich angelogen haben. Weil sie mich runtergeputzt haben. Weil sie mein Geld gewollt haben. Weil sie mir keine Zeit gelassen haben. Weil der Flugzeuglärm mich bekloppt gemacht hat. Dann drückte Ridgway eiskalt zu. »Ich hab aber so, äh, 1984 aufgehört. Oder 85. Aber ich bin mir ziemlich sicher 84. Mit den Morden.« Tom Jensen hakte nach: »Bist du da wirklich ganz sicher?« – »Ja.« – »Und es besteht nicht die Möglichkeit, dass du vielleicht, sagen wir mal, 1986 noch einen Mord begangen hast?« – »Nein.«
So zog sich das erste Verhör über mehrere Stunden hin. Die Ermittler lernten schnell, dass sich Gary Ridgway zwar sehr schlecht Namen merken konnte, er seine Opfer aber mit Spitznamen versehen hatte. Meistens stand der Ort dafür Pate, an dem er sie verscharrt hatte. Die Wasserturm-Lady. Die Strommast-Lady. Die Baumstamm-Lady. Die Lady unter den Nelken. Solange sie lebten, waren seine Opfer »Nutten« für ihn. Nun, da er sie getötet hatte, bezeichnete er sie penetrant als »Ladys«. Die Logik eines Serienkillers.
Die Verhöre entwickelten sich für die Polizisten deshalb zu einer Tortur in doppelter Hinsicht. Zum einen wegen der Grausamkeiten, die sie sich anhören mussten. Sie waren als Kriminalbeamte zwar einiges gewohnt. Aber Gary Ridgway führte sie sicherlich mit dem, was er ihnen offenbarte, das eine oder andere Mal an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit. Doch ebenso qualvoll war seine verschrobene Art zu erzählen. Ihm immer wieder die Dinge aus der Nase ziehen zu müssen. Ein typisches Beispiel für eine Unterhaltung mit Gary Ridgway sah wie folgt aus:
Tom Jensen: »Wann bist du gewöhnlich aufgestanden?«
Gary Ridgway: »Um sechs in der Früh.«
Tom Jensen: »Bist du sicher?«
Gary Ridgway: »Oder nein. Um fünf. Fünf oder vier.«
Tom Jensen: »Ja, also eine ganze Ecke früher als-«
Gary Ridgway: »Werktags.«
Tom Jensen: »… eine ganze Ecke früher als sechs.«
Gary Ridgway: »Und am Wochenende haben wir versucht auszuschlafen. Aber sagen wir meinetwegen um vier. Also, wenn sie um Mitternacht ermordet wurde … Julie und ich. Am Wochenende ausschlafen, meine ich. Klar? Wie gesagt, die Zeit, in der sie ermordet wurde, ich würde schätzen, ein paar Stunden.«
Tom Jensen: »Ein paar Stunden?«
Gary Ridgway: »Ja, äh, also, ist klar, ne? Wo ich sie, ihr wisst schon.«
Tom Jensen: »Erzähl‘s uns.«
Gary Ridgway: »Ich, äh …« Schweigen.
Tom Jensen: »Erzähl uns, wann du glaubst, die Frau umgebracht zu haben.«
Gary Ridgway: »Sie wurde nachts umgebracht. Also, was ich in den Nachrichten gehört habe. Ja. Sie wurde nachts umgebracht, soweit ich weiß.«
Das war die »Ridgway-Folter«, der sich die Beamten jeden Tag stundenlang ausgesetzt sahen. Erst korrigierte er innerhalb von zwei Sekunden dreimal, wann morgens bei ihm der Wecker rappelte. Dann beschrieb er nicht, was er getan hatte, sondern was die Nachrichten darüber berichtet hatten oder in den Ermittlungsakten stand. Und das Ganze garnierte er noch mit seinen wirren Gedankensprüngen zwischen völlig unterschiedlichen Themen. Die Ermittler waren wahrlich nicht um diese Erfahrung zu beneiden. Was da noch alles auf sie zukommen würde, konnten sie in diesem Moment allerdings unmöglich erahnen. Um 22.30 Uhr führten sie Gary Ridgway zurück in seine Zelle und freuten sich auf die Erkenntnisse, die ihnen der nächste Tag bringen würde.
Textprobe aus dem dritten Teil von „Todesmeile“