Januar 1984: Nachdem die SOKO »Green River« gescheitert war, gründete die Polizei des King County die »Green River Task Force«. Noch besser ausgestattet, mit noch mehr Personal. Die Besten der Besten sollten das mysteriöse Phantom zur Strecke bringen. Die Kriminalbeamten zeigten sich siegesgewiss: Ein halbes Jahr würde reichen, um den Green River Killer hinter Gitter zu bringen. Doch die Beamten sind zunächst ausschließlich damit beschäftigt, Dutzende von Leichen zu bergen und Tausende von Spuren akribisch zu sichern …
Wie die Geier
An der Straßensperre auf der Star Lake Road standen die Wagen der Medien Stoßstange an Stoßstange. Am Himmel kreisten die Hubschrauber wie die Geier. Hunderte von Journalisten waren aus den gesamten USA und aller Welt angereist – darunter sogar ein Kamerateam des deutschen Fernsehens – und lungerten tatenlos in der Kälte herum. Der Einsatz bedeutete die Höchststrafe für jeden Reporter. Keine Bilder, keine Informationen. Sie nährten sich zwei Tage lang von der Hoffnung, doch noch einen Blick auf etwas Spektakuläres, etwas Gruseliges erhaschen zu können. Alles, was sie zu sehen bekamen, waren Polizeibeamte, die Tüte um Tüte mit Beweismaterial aus dem Wald schleppten und auf Lkws verfrachteten. Es brauchte mehrere Lastwagen, um den Müll abzutransportieren.
Der bizarrste Gegenstand, den die Polizei aus Sicht der Reporter auf einen Wagen hievte, war ein etwa fünf Meter langer Baumstamm, dessen Ende aus braunem Packpapier hervorlugte. Auf dem Papier prangte gut sichtbar das übliche Etikett des Sheriffbüros zur Kennzeichnung von Beweismaterial. Was ging da in dem Wäldchen bloß vor sich, fragten sich die Journalisten. Wen, zum Teufel, jagten die da eigentlich? Bambi the Ripper, Seriennager aller Baumrinden? Bugsy, der unheimliche Killerborkenkäfer aus dem King County?
Ein Knochenjob
Irgendwann trat Captain Frank Adamson aus dem Wald an die Absperrung zu den Medienvertretern, um ihre Neugier zu befriedigen. Der Regen klatschte das glatte dunkle Haar des Task-Force-Leiters quer über den Scheitel. Tropfen perlten auf seiner Stirn. Als das Rotlicht der Kameras aufflackerte, faltete er die Hände wie zu einem Gebet. Wahrscheinlich waren sie nur furchtbar steif von der Kälte. Adamson verkündete ruhig und sachlich, dass die Polizei vier Leichen gefunden hatte. Dabei handelte es sich nach dem jetzigen Kenntnisstand um weitere Opfer der Green-River-Mordserie.
Nein, ein Tatverdächtiger wäre ihnen immer noch nicht bekannt. Aber sie – die Task Force – wären wie die Fischer. Wieder und wieder würden sie ihr Netz auswerfen, und irgendwann würde der Mörder darin zappeln. Ob er denn mit einem Ende der Mordserie rechnete? Das wäre zu diesem Zeitpunkt reine Spekulation. Doch angesichts der Größe und geografischen Beschaffenheit des King County befürchtete er, dass sie heute nicht die letzte Leiche des Green River Killers geborgen hätten.
Trotz der Knochenarbeit in doppeltem Sinne, die ihnen dieses Wochenende abverlangt hatte, waren die Kriminalbeamten der Task Force euphorisch gestimmt. Sie hatten nun ein Gefühl dafür entwickelt, nach welchen Kriterien der Täter seine Verstecke auswählte. Sie konnten sogar präzise voraussagen, wo er das Tatfahrzeug parkte. Sie waren überzeugt, dass er in der Umgebung lebte und aus dieser Gegend stammte. Sie wussten über seine nekrophilen Neigungen Bescheid. Sie hatten seine Sohlenabdrücke gesichert. So nahe waren sie dem Phantom während der Ermittlungen noch nie gekommen. Es rückte plötzlich in greifbare Entfernung. Sie befanden sich zweifellos auf dem richtigen Weg.
Ein politisch korrekter Serienmörder
Die Untersuchungen am Wochenende hatten ein weiteres Detail ergeben. Der Täter hielt sich nicht an das Lehrbuch für Serienmörder. Aber darin blieb er sich immerhin treu. Er wechselte nach wie vor zwischen weißen und schwarzen Frauen. Delores Williams und Terry Milligan waren Afroamerikanerinnen. Gail Matthews, Sandra Gabbert und Alma Smith Weiße. Shawnda Summers, deren Leichnam an der Straße der Vergewaltiger nördlich des Flughafens aufgefunden wurde – schwarz. Mary Meehan und Connie Naon, die Opfer vom Golfplatz, wiederum weiß. So war kein anderer bekannter Serienmörder jemals vorgegangen. Ein Alleinstellungsmerkmal.
Na prima, spotteten die Task-Force-Beamten. Ihr Serienkiller war ein politisch ganz Korrekter. Ein aufgeklärter Liberaler, der rassisch vorurteilsfrei jede Frau auf den Tod nicht ausstehen konnte. Vielleicht sollten sie das tolle FBI-Täterprofil um einen wichtigen Punkt erweitern: Täter wählt Demokraten. Und statt fingierter Bürgerversammlungen lieber demnächst Wahlveranstaltungen hoppnehmen.
Doch ab April 1984 riss die Mordserie scheinbar ab. Es tauchten zwar weitere Leichen des Green River Killers auf, diese hatte der Täter aber alle zuvor getötet. War der Mörder verzogen? Hatte er seine Vorgehensweise verändert? An ein Ende der Mordserie glaubte niemand …
Der zweite Teil beschreibt die Geschehnisse während des Zeitraums von Gründung bis zur Auflösung der »Green River Task Force« im Juni 1990.
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