Im August 1982 rief die Polizei des King County die SOKO »Green River« ins Leben. Die Ermittlungen gestalteten sich von Anfang an schwierig. Zwischen den Beamten der zuständigen Behörden entbrannte ein Streit um die richtige Strategie. Damit nicht genug: Das Sheriffbüro ließ sich auf eine Fehde mit Politikern und Medien ein, die über Jahre hinaus die Untersuchung belasten würde. Zu allem Überdruss gaben sich die Mitglieder der SOKO nach außen hin reichlich elitär und zogen den Neid ihrer Kollegen auf sich.
1982 galten Serienmörder als relativ neues Phänomen im Polizeialltag. Der Begriff »Serienmörder« war zu diesem Zeitpunkt noch nicht im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert. Viele Polizisten reagierten auf das Thema gereizt. Solche Tätertypen waren aus Sicht der Kriminalbeamten vor allen Dingen eine Erfindung der Medien. Ein simpler Mord lockte kaum noch Leser an. Die Meldung verschwand im Lokalressort. Sobald aber ein Reporter behauptete, zwei Mordfälle hingen miteinander zusammen, setzte bei der Leserschaft das Gruseln ein. Die Journalisten schossen weitere Artikel nach. Die Polizei leugnete. Die Medienvertreter gruben die ungeklärten Fälle der vergangenen Jahre aus. Die Polizei stritt nach wie vor jeglichen Zusammenhang ab. Die Presse fragte: Was verheimlichen die Ermittler? Und so weiter. Das war leicht verdientes Geld. Doch mit der kriminalistischen Wirklichkeit hatte das nichts zu tun.
Die Schreiberlinge machten sich gar keine Vorstellung davon, wie schwierig es war, eine Mordserie aufzuklären. Einer einzelnen Person zehn Morde gleichzeitig nachzuweisen, war nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Das glich der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Mit etwas Glück konnte man dem Typen zwei oder drei Taten beweisen. Für den Rest musste man auf ein Geständnis hoffen. Wie viel einfacher war es da, in einem Einzelfall einen passenden Schuldigen zu finden. Es gab genügend Leute mit Dreck am Stecken, die frei herumliefen. Buchtete man halt einen von ihnen ein. Schließlich liebten die Bosse aufgeklärte Fälle. Damit punktete man als Kriminalbeamter. Bei Serienmorden sammelte man in der Regel nur miese Bewertungen in der Personalakte an. Trieb so ein durchgeknallter Irrer erstmal sein Unwesen, hatte dies für die ermittelnden Beamten vor Ort Konsequenzen. Man entzog ihnen die Ermittlungen. Sie mussten mit anderen Behörden zusammenarbeiten. So etwas erlebte kein Polizist gerne. Außerdem drehten die Medien, die Öffentlichkeit und die Politiker bei solchen Fällen komplett durch. Der Sündenbock für alle war immer die Polizei.
Der große Keppel
Nein. Die Einzigen, die von dem Quatsch profitierten, waren doch die Medien. Und so Typen wie Bob Keppel. Sture Selbstdarsteller, die die Weisheit mit Löffel gefressen hatten. Die ihre Nische mit diesem neumodischen Firlefanz gefunden hatten. Die ihre Masche gnadenlos vermarkteten. Die ihre Visage in die Kameras hielten und etwas von Serienmördern faselten. Was für gefährliche Monster da draußen unentdeckt herumliefen. Wenn es nach Keppel ginge, wäre plötzlich jeder hundsgewöhnliche Mord in Wahrheit ein supergeheimnisumwitterter Serienmord. Dass einer den anderen einfach so – Bang! Bang! – kaltmachte, war dem Herrn zu simpel. Laut Keppel zogen momentan marodierende Horden völlig verkorkster Bettnässer durchs Land und meuchelten alles links und rechts nieder, nur um sich an ihrer dominanten Mutti zu rächen.
Ausgerechnet diesen Egomanen hatte Major Kraske ebenfalls zu dem Treffen eingeladen. Keppel arbeitete inzwischen für die Staatsanwaltschaft. Er zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt von der bisherigen Ermittlungsarbeit. Und er war ganz und gar nicht davon angetan, dass die wenigen Erkenntnisse in einem sinnlosen Palaver zerredet wurden. Keppel stand auf. Das Geschnatter endete schlagartig. Der Quertreiber schon wieder. Der Quertreiber knallte ihnen die Fakten vor den Latz. Zumindest die fünf Frauen am Fluss waren die Opfer ein und desselben Täters. Das war doch glasklar.
- Alle Opfer waren ungefähr gleich alt.
- Der Täter hatte die Leichen im selben Fluss abgelegt, nicht weit voneinander entfernt.
- Bei zwei Frauen fanden sich ähnlich geformte Steine in der Vagina.
- Die beiden ersten Opfer erdrosselte der Mörder mit ihren eigenen Hosen. Dabei benutzte er denselben Knoten.
Vaginal eingeführte Gegenstände. Kleidungsgegenstände des Mordopfers als Strangulationswerkzeuge. Wir haben es hier mit einem sexuell motivierten Psychopathen zu tun, meine Damen und Herren. Die versammelten Ermittler kamen sich vor wie in einem Seminar auf der Polizeiakademie. Am Ende der Veranstaltung gab es wahrscheinlich noch einen Test und Noten. Meine Damen und Herren, vermutlich ist der Täter gestört worden, als er sein letztes Opfer zum Fluss brachte. Was den Leichnam am Ufer erklären würde. Er hat es mit der Angst zu tun bekommen und die Leiche einfach liegen lassen. Meine Damen und Herren: Das ist nicht das erste Mal, dass der Mann tötet. Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Unser Unbekannter wird töten, solange bis wir ihn entweder geschnappt haben oder er stirbt.
Eine Entscheidung mit verheerenden Folgen
Die Ermittlung hatte mit einem weiteren Problem zu kämpfen. Zunächst führten die Spuren ins Rotlichtmilieu am Strip, dem weithin bekannten Straßenstrich am Flughafen von Seattle. Hier hielt der Mörder nach seinen Opfern Ausschau. Aus Sicht der Polizisten tummelte sich dort der kriminelle Abschaum der Stadt: Prostituierte, Zuhälter, Drogendealer. Das Milieu wiederum witterte in jedem Cop einen natürlichen Feind. Es kostete die Beamten sehr viel Zeit und Energie, bis sie brauchbare Tipps aus der Szene erhielten.
Die FBI-Legende John Douglas erstellte im September 1982 ein Täterprofil. Er warnte die Kriminalbeamten nachdrücklich davor, seine Analyse allzu wörtlich zu nehmen. Vergeblich. Die SOKO konzentrierte ihre Ermittlungen umgehend auf einen einzigen Verdächtigen, der in mehreren Punkten dem Profil entsprach. Das Problem: Es lag keinerlei Beweis vor, der ihn mit der Tat in Verbindung brachte. Ein halbes Jahr verging, in dem die Beamten ausschließlich damit beschäftigt waren, den Mann zu beschatten und wiederholt zu verhören. Andere Ermittlungsansätze wurden nicht weiter verfolgt.
Eine Entscheidung mit verheerenden Folgen. Denn eines steht aus heutiger Sicht zweifellos fest. Auch wenn es fraglich ist, ob die Sonderkommission nach dem damaligen Kenntnisstand den wahren Täter hätte fassen können – ihr wäre es auf jeden Fall möglich gewesen, eine Vielzahl der übrigen Morde zu verhindern. So tötete der Green River Killer 1982 zwölf weitere junge Frauen. 1983 sind es dann unfassbare 27 Mordopfer. Bis zum Sommer 1983 ahnt die SOKO nicht einmal von der Tragödie, die sich quasi vor ihren Augen abspielt.
Nur für Mitglieder
Kraskes Bauchgrimmen wurde immer heftiger. Diese Ermittlung lief aus dem Ruder. Es war Zeit für eine zweite Meinung. Er bat erneut Bob Keppel um Hilfe. Keppel erschien erstmals am 7. März 1983 und verschaffte sich einen Überblick über die Untersuchung. Die fünf Kommissare waren in einem kleinen Büro im Sittendezernat eingepfercht. Das Zimmer war ein fensterloser Flur in einem Zwischengeschoss, das zwei Treppenhäuser miteinander verband. 2,50 Meter breit und 8 Meter lang. Der Raum war das reine Chaos. Die Wände waren mit Fotos der Opfer und Kartenmaterial tapeziert. Die Regale quollen über von Aktenordnern und Schnellheftern. Die telefonisch eingegangenen Hinweise waren einfach auf Notizzettel gekritzelt und auf Nadeln aufgespießt worden. Überall lagen verstreut lose Papierseiten herum.
Über der Tür war ein Schild angebracht: »Green River Team – nur für Mitglieder«. Mit solchen Sprüchen machte man sich keine Freunde innerhalb der Polizei. Die Sitte hatte ihre Überprüfungen der Freier bereits im Januar eingestellt, weil die Mordserie beendet schien. Den Ermittlern der einstigen SOKO »Green River« fehlte die Zeit dazu. Zwischen den beiden Abteilungen herrschte Eiszeit. Das Sittendezernat hielt die Kollegen für hochnäsig. Sie schotteten sich ab und verlangten nach immer neuen Informationen, ohne selber etwas preiszugeben. Die konnten sie mal. Ausgerechnet diejenigen Polizisten, die durch ihre Kenntnisse über das Milieu am Strip am meisten beizutragen hatten, klinkten sich aus den Ermittlungen aus.
Beamte des Sittendezernats, die den Strip überwachen sollten, schauten dem Geschehen dort nur gelangweilt zu. Sie hatten den Auftrag, die Autokennzeichen der Freier zu notieren. Sie taten es in der Regel nicht. Wenn doch, gaben sie die Daten nicht an die Kollegen der SOKO weiter. Verhafteten sie eine Prostituierte, war es ausgemacht, dass sie sie nach den Green-River-Morden befragten. Nichts dergleichen geschah.
Bob Keppel ging die Akten durch. Keppel war entsetzt. Beweisstücke von den Fundorten der Leichen fanden sich in den Ordnern mit den Verdächtigen wieder. Hinweise zu den Tatverdächtigen standen wiederum in den Tatortberichten. Für Informationen über die Opfer gab es überhaupt keine separaten Akten. Es gab noch nicht einmal eine Übersichtsliste, die alle bisher gesammelten Spuren auflistete. Hier herrschte das totale Chaos.
Im Herbst 1983 dämmerte den Kriminalbeamten allmählich, dass ihnen haarsträubende Fehler unterlaufen waren. Dass es weitaus mehr Opfer gab als bisher angenommen. Zu diesem Zeitpunkt war die SOKO »Green River« aber praktisch schon in Auflösung begriffen. Die Untersuchung war völlig festgefahren. Da ernennte das King County einen neuen Sheriff. Er verhielt sich im Umgang mit Politikern geschickter als sein Vorgänger. So gelang es ihm, das King County davon zu überzeugen, Gelder für eine weitere SOKO freizugeben. Die größte Sonderkommission, die die amerikanische Geschichte je gesehen hat. Die »Green River Task Force«.
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