Dämonisch – Neuer True Crime Thriller – Erste Kostprobe

Wie ich bereits angekündigt habe, gibt es heute einen Auszug aus meinem neuen True Crime Thriller „Dämonisch“ über den Serienmörder David Berkowitz aka „Son of Sam“ zu lesen. Die Kostprobe umfasst das erste Kapitel.

 

Kapitel 1: Dancing Queen

Freitag, 29. Januar 1977, Forest Hills, Queens

 

Er hatte sich gegen sieben Uhr am Abend schlafen gelegt. Draußen war bereits stockfinstere Nacht. Der eiskalte Wind rüttelte an den Fenstern seines Apartments und pfiff durch die Ritzen. Er versuchte, zu schlafen. Er wälzte sich auf der Matratze herum. Er vergrub seine Ohren tief im Kissen, um das Heulen des Windes auszublenden. Er hörte stattdessen den Puls in seinem Ohr pochen und rauschen. Er drehte sich in eine andere Position. Und wieder stimmten die Dämonen ihren Heulgesang an. Nach drei Stunden vergeblichem Kampf gab er sich geschlagen.

Er setzte sich auf. Seine nackten Füße berührten den frostigen Boden. Er starrte minutenlang ins Dunkel seiner Wohnung. Ihm schossen Gedanken durch den Kopf. Gedanken von erdrückender Klarheit. Er hatte sich daran gewöhnt, dass die Leute ihn nicht wahrnahmen. Für sie war er noch weniger als Luft. Überflüssiges Gas, das nicht mal zum Atmen taugte. Inzwischen war ihm das sogar recht. Aber er würde nie begreifen können, wie diese Blinden auch Sam ignorierten konnten.

Der 6.000 Jahre alte Sam. Der Bursche hatte mehr Morde auf dem Kerbholz als Hitler und Stalin zusammen. Sam war Hitler und Stalin in einer Person. Und eine Menge schrecklicher Gestalten dazu. Sam war der Fürst der Finsternis. Sam war der gefallene Engel Luzifer. Sam war der Teufel. Sam war eine Handvoll kosmischer Staub des puren Bösen, der auf die Erde herabgerieselt war und dessen Saat nun aufging. Und er selbst war der Sohn von Sam. Das willenlose Werkzeug des Teufels. Die Frucht des Teufels. Ein ziemliches reifes Früchtchen, wollte er mal meinen. Er kicherte freudlos in sich hinein. Wie sollte er den Menschen nur begreiflich machen, welche Gefahr ihnen von Sam drohte?

Er machte das Licht an. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke und tauchte den Raum in gleißendes Licht. Die Wohnung bestand nur aus dem einen Zimmer. Die Matratze hatte er rechts ins Eck vor das Fenster geschoben. Der Bettrahmen lag direkt auf dem Boden auf. Die orangefarbene Bettdecke hatte er achtlos in die Ecke geworfen. Auf den Stoff hatte er mit Filzstift eine Zeichnung aufgetragen. Ein Mann mit einem bärtigen Gesicht, der eine Pfeife schmauchte. Unter dem Bild stand in Druckbuchstaben: »Brauche dringend Zigarettenpapier«.

Neben dem Bett stand ein leerer Plattenständer, in der Mitte des Raums eine zusammengewürfelte Stereoanlage. Eine einfache Holzbank neben einer Kleiderkommode an der gegenüberliegenden Wand komplettierte die spärliche Inneneinrichtung. Ein roter Duftspender, der künstliches Rosenaroma verbreitete, war neben der grellen Bettdecke der einzige Farbtupfer in der Wohnung. Die Wände waren ansonsten vollständig kahl. Zumindest, was die übliche Deko wie Bilder, Poster oder Lampen betraf.

Er hatte die weiß gestrichene Wand stattdessen mit kryptischen Botschaften vollgekritzelt. An einer Stelle hatte er ein handtellergroßes Loch in den Putz getreten und das blanke Mauerwerk freigelegt. Daneben stand geschrieben: »Hi! Mein Name ist Mr. Williams und ich lebe in diesem Loch. Ich habe mehrere Kinder, die ich zu Mördern heranziehe. Wartet ab, bis sie groß geworden sind.« Ein Pfeil zeigte auf das Loch in der Wand.

Der Mann, der die wirre Botschaft verfasst hatte, schlief auf einer nackten Matratze – wenn er denn schlief. Er benutzte nur ein Kissen und ein Plumeau. Die Laken fehlten. Damit hatte er seine Fenster verhängt. Die Fenster gingen nach Westen hinaus. Ohne die Laken hätte er freie Sicht auf den Hudson River gehabt. Aber er wollte verhindern, dass ihm jemand in die Wohnung schaute. Das Mietshaus stand auf einem Hügel und überragte alle anderen Gebäude in der Umgebung. Er lebte im obersten, dem siebten Stockwerk. Er brauchte bestimmt keine Angst zu haben, dass ihm einer der Nachbarn in die Bude glotzte. Die Dämonen schon, so glaubte er. Dämonen interessierte die Höhe nicht. Sie kamen überall hin.

Auch das Fenster in der Küchennische hatte er mit einem Laken bedeckt. An einem Wintertag wie diesem 29. Januar war es den ganzen Tag stockduster in der Wohnung. Es passte irgendwie zum trostlosen Zustand des Apartments. Auf dem Resopaltisch, der halb in der Küchennische, halb im Eingangsflur stand und eigentlich als Esstisch dienen sollte, stapelte sich das benutzte Geschirr. Daneben türmte sich ein Berg Schmutzwäsche auf dem Boden. Ansonsten war die gesamte Wohnung mit leeren Milchtüten, Limoflaschen und zerdrückten Bierdosen übersät.

Er schlüpfte in eine Jeans und zog ein sauberes, gebügeltes Hemd an. Das Apartment mochte den Fantasien eines Messies entsprungen sein – er selbst legte aber viel Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild. Er zog sich eine dünne Jeansjacke über, obwohl draußen -10 Grad Celsius waren. Er ging zur Kommode und zog die oberste Schublade auf. Er holte einen Revolver heraus, den er zwischen Socken und Unterwäsche versteckt hatte. Er klappte die Trommel aus. Jede Kammer war mit einer Patrone geladen. Befriedigt verließ er seine Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen, und lief die Treppe hinab.

Obwohl es erst kurz nach 22.00 Uhr an einem Freitagabend war, war die Straße in der ruhigen Wohngegend wie ausgestorben. Die Kälte hatte die Leute in ihre Häuser getrieben. Aber die Dämonen schliefen nie. Sie kümmerte weder Kälte noch Hitze. Er blickte sich nervös um. Vielleicht lauerte einer dieser Burschen gerade im Schatten. So waren diese Dämonen: hinterhältig und gemein. Warteten auf ein unvorbereitetes Opfer. Er tastete nervös nach der Waffe, die griffbereit im Gürtel steckte. Erleichtert schloss er seinen Wagen auf.

Er brauchte mehrere Versuche, bis der Motor ansprang. Dann saß er zehn Minuten bei laufendem Motor im Wagen und wartete, bis die Maschine auf Touren kam. Er starrte in die erleuchteten Fenster der Häuser ringsum. Die Leute hatten keine Ahnung. Die wussten einen Scheißdreck. Die blickten nicht, wie es auf dieser Welt lief. Die glotzten gerade Fernsehen, sahen vielleicht ihren Präsidenten in den Nachrichten und dachten, der habe alles im Griff. Oder sie glaubten, die Reichen wie die Kennedys oder Rockefellers hätten die Kontrolle. Einen Scheiß hatten die.

Es gab nur Gott und Satan. Die Einzigen mit wahrer Macht auf diesem Planeten. Sie bestimmten, wie das Spiel gespielt wurde. Eines Tages würde Gott herabsteigen und zum letzten, entscheidenden Gefecht gegen den Teufel antreten. Erst dann konnte die Menschheit auf ewigen Frieden hoffen. Sam mochte ein zäher Bursche sein, der 6.000 Jahre durchgehalten hatte. Aber Gott war eine ganz andere Hausnummer. Gott war das ewige Leben. Gott würde es schon richten. Gott würde dem Treiben ein Ende bereiten, wenn es ihm gefiele. Doch wer wusste schon zu sagen, wann dieser Tag kommen würde?

Bis es soweit war, musste er unschuldige Seelen töten. Dem Teufel dürstete nach der Unschuld. Warum? Keine Ahnung, warum. Weil Satan es so wollte. Er machte nicht die Spielregeln. Er war nur Luzifers Werkzeug. Gott würde ihn verstehen, weil er den Teufel und seine Spielchen durchschaute, während die Menschen blind durch ihr Dasein taumelten. Jeden Tag starben Menschen auf dieser Welt. Die wenigsten von ihnen schliefen friedlich ein. Nein, sie mussten leiden, schrecklich leiden. Daran ließ sich nichts ändern. Er löste die Handbremse, legte den Gang ein und rollte den Hügel hinab.

Er fuhr den Broadway Richtung Süden und bog links auf die Ashburton Avenue ein. Am Ende der Straße wechselte er auf die Yonkers Avenue, nahm die Auffahrt auf den Cross County Parkway Richtung Osten und wechselte schließlich auf den Bronx River Parkway. Er fuhr vorsichtig, denn auf den Straßen war der Schnee liegen geblieben, den der letzte von unzähligen Blizzards in diesem Winter gebracht hatte. Der platt gefahrene Matsch war stellenweise hart gefroren und spiegelglatt. Trotzdem benötigte er nur eine Viertelstunde bis zur Whitestone Bridge. Er zückte die abgezählten 75 Cent aus seiner Jackentasche und schmiss sie in den Behälter an der Mautstelle. Das war seine Eintrittskarte. Die Tore zur Hölle öffneten sich. Heute Nacht würde er die Dämonen zum Verstummen bringen. Er wusste es.

***

Christine Freund schaute auf die Uhr. Es waren zehn Minuten nach Mitternacht. Sie hatte keine Lust, wieder hinaus in die Kälte zu gehen. Jetzt, wo sie es sich gerade so gemütlich gemacht hatten bei Wein und Käse. Sie fröstelte allein schon bei der Erinnerung daran, wie ihr die Zähne auf dem Hinweg geklappert hatten, als sie vom Auto hier herüber in die Austin Street gelaufen waren. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Sie hatten noch Pläne für diese Nacht. Sie wollten tanzen gehen. Sie würden die Disco aufsuchen, in der sie und ihr Verlobter John Diel sich verliebt hatten.

Ihr »Verlobter«. Ein ganz neues Wort, an das sie sich erst noch gewöhnen musste. Sie strich John, der ihr gegenübersaß, liebevoll durch den zotteligen Bart. Heute hatten sie ihre Verlobung gefeiert – inoffiziell. In zwei Wochen, am Valentinstag, würde die offizielle Sause mit Familie und Freunden folgen, im Sommer die Hochzeit. Doch der heutige Tag gehörte ganz ihnen. Und da würden sie an den Ort zurückkehren, an dem alles begann.

Die beiden verband eine lange gemeinsame Geschichte. Sie waren 1957 im Abstand von einem Monat als Kleinkinder mit ihren Eltern in die USA eingewandert. John Diel, der vor einer Woche dreißig geworden war, stammte aus einer deutschsprachigen Familie im heutigen Slowenien. Die 26-jährige Christine Freund hatte ihre Wurzeln in Wien. Die Freunds und die Diels hatten sich im nahe gelegenen Stadtteil Ridgewood angesiedelt. Christine und John kannten sich von Kindesbeinen an. Richtig gefunkt hatte es aber erst vor sieben Jahren.

An diesem Abend waren sie zur Feier des Tages ins Nachbarviertel Forest Hills hinübergefahren. Auf der Austin Street gab es jede Menge Bars, Restaurants und Kinos. Im »Continental Theatre« hatten sie sich zunächst »Rocky« angeschaut – der Film, über den im Moment jeder sprach. Danach waren sie zwei Häuser weiter in die »Wine Gallery« gewechselt, wo sie jetzt saßen. Sie hatten dort bei romantischem Kerzenschein mit einem Glas Wein auf ihre Verlobung angestoßen.
Nun wollten sie also zurück nach Ridgewood. Wenn sie sich ein paar Stunden zur Discomusik bewegt hätte, wäre die Kälte vergessen, redete sich Christine Mut zu, bevor es hinaus in die frostige Nacht ging. Außerdem mussten sie einen Freitagabend bis zur Neige auskosten, egal wie das Wetter war. Denn Freitag war der einzige Abend der Woche, der John und Christine gemeinsam zur Verfügung stand.

Christine Freund arbeitete tagsüber als Sekretärin in Manhattan. John Diel als Barkeeper im »Ridgewood III«, einer Stammkneipe der Alteingesessenen in Ridgewood. John war an sechs Abenden der Woche nicht zu Hause. Sie hatten ihm oft genug zugeredet, sich einen anderen Job zu suchen. So sehr sie John auch liebte, doch in solchen Dingen war er furchtbar träge. Das war eines der wenigen wiederkehrenden Streitthemen zwischen ihnen.

Um etwa 0.30 Uhr bogen Christine Freund und John Diel von der Austin Street in die Continental Avenue ein. Sie bemerkten einen jungen Mann, der am Straßenrand stand und den Daumen raushielt. Er trug einen auffälligen Rucksack in knalligem Orange auf den Schultern. Christine und John schauten sich grinsend an. Um diese Uhrzeit bei dem lausigen Wetter darauf zu hoffen, als Tramper mitgenommen zu werden, war schon mutig. Oder aber vollkommen plemplem.

Christine Freund und John Diel zogen die Köpfe ein und stemmten sich gegen den eiskalten Wind, der die Continental Avenue hinabblies. Sie stapften so schnell vorwärts, wie es der rutschige Schnee auf dem Bürgersteig zuließ. Hoffentlich hatten sie bald das verdammte Auto erreicht. Inzwischen zeigte das Thermometer -15 Grad Celsius. Um 0.35 Uhr unterquerten sie die Gleise der Long Island Railroad, einer Pendlerlinie, die den Bezirk Queens in der Mitte durchschnitt und Manhattan mit den östlichen Vororten verband. Ein grüner Kleinwagen hielt am Straßenrand an. Ein Mann mit einem Koffer stieg aus und eilte zum Treppenaufgang, der zum Bahnsteig führte.

Gleich hinter der Unterführung waren Christine Freund und John Diel schließlich an ihrem Ziel angelangt: dem Station Square, an dem Diel sein Auto geparkt hatte. Der kleine Platz war von putzigen, alten Häuschen und einem Hotel im Tudorstil umsäumt. Zu dieser späten Stunde hielt sich hier niemand auf. Der Bahndamm der Long Island Railroad grenzte gleich am nördlichen Ende an. John Diel schaute auf die Uhr: zwanzig Minuten vor eins. Um eins wären sie wieder in Ridgewood.

Sie stiegen in Diels blauen Pontiac Firebird ein. »Mein Gott, ist das kalt«, bibberte Christine und schmiegte sich in die Arme ihres Freundes. John Diel ließ den Motor warmlaufen. Es würde ein paar Minuten dauern, bis sie endlich loskamen. Sie blickten ihren Atemwölkchen nach. Die Fenster beschlugen. Um die Wartezeit zu verkürzen, schob John eine Kassette in den Rekorder. Die neueste Platte von ABBA. »Dancing Queen«. Christine Freund liebte das Lied. Es kam wieder Leben in die junge Frau. Genau auf diese Musik wollte sie heute Abend tanzen. Sie richtete sich auf, bewegte die Arme im Takt der Musik und sang lauthals mit: »Where they play the right music, getting in the swing, you come to look for a king, anybody could be that guy …«

***

Er war anderthalb Stunden in Queens umhergefahren. Er wartete auf ein Zeichen der Dämonen. Als er Forest Hills durchquerte, wusste er, dass er am Ziel seiner Reise angelangt war. Die Dämonen grunzten zufrieden. Er schlenderte durch das verschlafene Wohnviertel mit den wunderschönen alten Häusern. Er kam auf die Austin Street, die trotz des miesen Wetters noch belebt war. In einer Pizzabude entdeckte er eine große Uhr an der Wand. Er blickte durch das Schaufenster. 23.35 Uhr. Er spazierte weiter die Austin Street auf und ab, wartete auf ein erneutes Zeichen. Um Viertel nach zwölf schlugen seine Antennen Alarm.

Erst jetzt fühlte auch er die Kälte dieser Nacht, die durch seine dünne Jeansjacke kroch. Er schlug den Kragen nach oben. Als er aufblickte, begegnete ihm ein junges Liebespaar, das aus einer Bar trat. So nah, dass er die beiden hätte berühren können. Sie schenkten ihm keinerlei Beachtung, hatten nur Augen für sich. Das Mädchen war wunderschön. Das lange braune Haar wippte leicht, wenn sie mit festem Schritt auftrat. Er hörte den vielstimmigen Chor der Dämonen. »Das ist sie. Schnapp sie dir.« Sie wiederholten die Sätze. Das Stimmengewirr schwoll an, lauter und lauter, bis ihm der Kopf dröhnte. »Sam mag hübsche Mädchen«, flüsterten sie ihm ein, »und wir auch.«

Er blieb schließlich stehen und drehte sich um. Mittlerweile lagen zwanzig Meter zwischen ihm und dem Paar. Er folgte ihnen langsam, ließ ihnen noch mehr Vorsprung. Sie bogen in die Continental Avenue ein. Ah, jetzt verstand er. Ein wahrhaft dämonischer Plan. Die beiden liefen in Richtung einer dunklen Unterführung. Der Fürst der Finsternis lockte ihn ins Reich der Schatten.

Hinter der Unterführung überquerten der Mann und das Mädchen die Straße und hielten auf die parkenden Wagen zu. Er stellte sich hinter einen jungen Ahornbaum, um sie zu beobachten. Der schmale Stamm konnte seinen massigen Körper kaum verbergen. Das machte nichts. Die beiden Turteltäubchen hatten nach wie vor nur Augen für sich. Er sah, wie sie in einen blauen Wagen stiegen. Der Motor sprang an, aber der Wagen fuhr nicht los. Fuhr einfach nicht los. So viel zu Gott, dachte er. Hielt sich fein raus, wenn er gebraucht wurde.

Er wusste, was er zu tun hatte. Das Dröhnen der Stimmen steigerte sich zum Crescendo. Die Dämonen verlangten ihren Blutzoll. Das Mädchen und der Junge umarmten sich. Sie küssten sich. Nur zu. Bald würde sie ihm gehören. Er hörte Musik. Die Dämonen schienen heute groß aufzuspielen. Er griff nach seinem Gürtel. Zog den Revolver heraus. Näherte sich von hinten dem blauen Wagen. Schlich sich im Schatten der Häuser und Bäume entlang, dann weiter im toten Winkel des Fahrzeugs. Die beiden ahnten nichts von ihrem Schicksal. Der Wagen lief und fuhr nicht fort.

Er stellte sich neben die Beifahrertür. Die Scheibe war beschlagen, doch er konnte die Silhouette des Mädchens ausmachen. Er zielte mit dem Colt direkt auf ihren Kopf. Er ging leicht in die Hocke und umklammerte sein rechtes Handgelenk mit der linken Hand. Dann zog er den Abzug zurück. Einmal. Zweimal. Dreimal. Das reichte. Er musste Munition sparen. Er wusste, er hatte sie getroffen.

Er rannte los. Sein Auto stand in der Greenway Terrace. Er musste bloß dem Bahndamm folgen. Er war schon zweihundert Meter von dem blauen Wagen entfernt, als er Schreie hörte. Die Schreie eines Mannes. Er war sicher, dass das Mädchen nie mehr schreien würde. Er wusste es einfach. Denn die Stimmen der Dämonen waren verstummt. Sie waren zufriedengestellt. Vorläufig.

***

Christines Gesang wurde von einem ohrenbetäubenden Knall unterbrochen. Das Fenster auf der Beifahrerseite zersprang in tausend Stücke. Scherben und Splitter und regneten herab. Christine schrie auf. Es war erstaunlich, wie reaktionsschnell John Diel die Situation erfasste. Er zog Christine sofort in den Fußraum des Wagens. Unmittelbar danach peitschten zwei weitere Schüsse durch den Wagen.

Als der dritte Schuss verhallt war, breitete sich gespenstische Stille aus. Nichts war zu hören. Keine Schritte eines flüchtenden Täters. Keine Stimmen aufgeregter Passanten. Keine Sirenen. Nur der Kassettenrekorder plärrte unverändert vor sich hin. »See that girl, watch that scene, diggin‘ the dancing queen …« John Diel traute sich nicht, die Musik abzuschalten. Am Ende rief das den irren Schützen nochmals auf den Plan.

Diel konnte der Polizei später nicht sagen, wie lange er in dieser Haltung verharrt hatte. Mit eingezogenem Kopf. Leise betend. Vielleicht fünfzehn Sekunden. Vielleicht eine halbe Minute. Vielleicht auch eine ganze. Es kam ihm auf jeden Fall wie eine Ewigkeit vor. Er wusste nur, dass immer noch das ABBA-Lied lief. Wie in einer Endlosschleife drang der Refrain aus den Boxen: »See that girl, watch that scene, diggin‘ the dancing queen …«

Endlich traute sich John Diel, vorsichtig hinauszulugen. Wartete der Killer noch da draußen? Würde er ihm die Birne wegpusten, sobald er Bewegung im Wageninnern wahrnahm? Nichts. Dort draußen lauerte niemand mehr mit einer Pistole auf sie. Die Straße war völlig verwaist. In den umliegenden Häusern war noch nicht mal das Licht angegangen. Es war, als hätte er sich das alles nur eingebildet.

John Diel zog seine Freundin nach oben. Er berührte vorsichtig ihren Kopf und flüsterte beruhigend auf sie ein. »Chris? Ist alles in Ordnung mit dir?« Seine Hände wurden plötzlich feucht. Hatte einer der Schüsse die Heizung getroffen? Immer mehr von der warmen Flüssigkeit sickerte durch seine Finger. Bis er endlich begriff. Es war Blut. Christines Blut.

»Mein Gott, Chris! Chris!«, rief John Diel verzweifelt. Aber Christine Freund antworte ihm nicht. Er richtete seine Freundin im Sitz auf. Sie blickte leblos ins Nirgendwo. Verzweifelt presste er seine Hand auf die klaffende Wunde an ihrem Schädel, als könnte er so den Blutstrom stoppen. Ein sinnloses Unterfangen, wie ihm schnell aufging.

Was sollte er machen? Er hatte keine Ahnung, wo sich die nächste Klinik befand. Diel öffnete die Fahrertür, stieg langsam aus und bettete Christines Kopf vorsichtig auf den Fahrersitz. Dann stürzte er los, um Hilfe zu finden. Er rannte instinktiv in Richtung Continental Avenue, der Hauptstraße. Er lief auf ein Auto zu, das dort an einer roten Ampel hielt. Er schrie das Paar in dem Wagen an: »Meine Freundin ist verletzt! Bitte helfen Sie mir!«

Diel war sich nicht bewusst, wie er auf die jungen Leute wirken musste. Ein bärtiger zersauster Typ, der wild mit den Armen herumruderte. Sein Mantel übersät mit Glassplittern und dunklen Blutflecken. Den jungen Leuten schien er auf jeden Fall einen gehörigen Schrecken einzujagen. Denn der Fahrer trat das Gaspedal durch und schlitterte von dannen. Ein zweiter Wagen, der die Straße herunterkam, ließ den Motor aufheulen. Verzweifelt stellte sich Diel dem Auto in den Weg. Im letzten Moment scherte der Fahrer noch aus und verhinderte eine Kollision. Aber auch dieses Fahrzeug hielt nicht an.

Die Continental Avenue war nun menschenverlassen. John Diel rannte wieder zurück zu seinem Pontiac Firebird. Er drückte die Hupe und rief erneut laut um Hilfe. Niemand zeigte sich an den Fenstern. Kein Anwohner kam vor die Tür. Diel konnte nicht ahnen, dass die Nachbarn die Schüsse zwar überhört hatten, aber sie das nächtliche Hupkonzert aus dem Schlaf gerissen hatte. Bei der Polizei gingen nun im Sekundentakt erboste Anrufe ein.

So verstrichen für John Diel quälend lange Minuten in der Kälte. Er hörte in der Ferne Sirenen. Endlich. Dann kamen ihm Zweifel. Würden sie ihn in dieser dunklen Seitenstraße schnell genug finden? Er bettete die immer noch regungslose Christine auf den Beifahrersitz um und klemmte sich hinters Steuer. Er fuhr den Wagen mitten auf die Kreuzung Burns Street und Continental Avenue und legte damit den Verkehr lahm. Das brachte ihm allerdings die gewünschte Aufmerksamkeit ein. Verärgerte Autofahrer stiegen daraufhin aus ihrem Wagen aus und beschimpften ihn. Aber dann sahen sie das blutende Mädchen. Und schließlich kam jemand auf die Idee, neben der Polizei auch einen Rettungswagen zu alarmieren.

Was Diel wie eine Ewigkeit vorgekommen war, hatte in Wahrheit nur vier Minuten gedauert. So viel Zeit war zwischen dem ersten Anruf bei der Polizei und der Ankunft des Streifenwagens vergangen, wie es das Polizeiprotokoll vermerkte. Ein Rettungswagen raste mit Christine Freund ins St. John‘s Hospital. Der Notarzt hatte noch einen schwachen Puls festgestellt. Die Sanitäter verständigten über Funk die Klinik, dass ein Opfer mit möglicher Schusswunde am Kopf hereinkam. Zehn Minuten später fuhr die Ambulanz an der Notaufnahme vor.

Die Röntgenaufnahmen bestätigten die schlimmsten Befürchtungen. Die erste Kugel war durch die rechte Schläfe ins Gehirn eingedrungen und hatte irreparablen Schaden angerichtet. Obwohl John Diel so geistesgegenwärtig reagiert hatte, war es in diesem Moment bereits zu spät. Die junge Frau hatte darüber hinaus einen Steckschuss im Schulterbereich abbekommen, der allerdings nicht lebensgefährlich war. Die dritte Kugel hatte ihr Ziel verfehlt, war durch den Innenraum gerast und hatte das Armaturenbrett perforiert.

Noch bevor die Operation abgeschlossen war, verstarb Christine Freund um 4.30 Uhr auf dem OP-Tisch. Selbst wenn die Ärzte das Leben von Christine gerettet hätten, wäre sie aller Voraussicht nach zeit ihres Lebens geistig schwerstens beeinträchtigt und gelähmt geblieben. Der leitende Chirurg konnte den Ermittlern der Mordkommission, die inzwischen im Krankenhaus eingetroffen waren, zumindest einen wichtigen Hinweis an die Hand geben. Der Mörder musste direkt neben dem Wagen gestanden haben, als er die tödliche Kugel abfeuerte. Da hatte niemand wild in der Gegend herumgeballert und sein Opfer zufällig getroffen. Das war ein gezielter, eiskalter Mord gewesen.

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